Vor einer Depression kann man nicht davonlaufen

Vor einigen Wochen habe ich mir vorgenommen 5 Kilometer am Laufband zu laufen. Es war wie immer. Manchmal anstrengend, manchmal langweilig, manchmal ganz gut. Auf den letzten Kilometer hatte ich nicht mehr wirklich Lust aber was soll’s, dachte ich mir, einfach weiterlaufen. Dann hatte ich eine Idee. Ich würde genau 4,9 Kilometer laufen. Als ich dann wirklich bei 4,9 Kilometern vom Laufband stieg, hatte ich ein befreiendes Gefühl. Zuvor sträubte sich etwas in mir. Irgendetwas in mir sagte: „Du hast dir vorgenommen 5 Kilometer zu laufen, also machst du das jetzt auch!”. Diese nervige Stimme, dieser „innere Kritiker”, wie das manche Meditationsmenschen nennen, ist so gut wie immer ein Arschloch. Und das Hauptproblem ist, dass man oft denkt, dass das nicht irgendeine seltsame Stimme im Kopf ist, sondern, dass man das selbst ist. Aber wenn dem so ist, wer hört dieser Arschloch-Stimme dann eigentlich zu? Bin ich nicht auch der Zuhörer? Und wenn ja, warum rede ich dann eigentlich mit mir selbst? Also warum habe ich manchmal (oder of) gänzlich ausformulierte Sätze im Kopf, die ich zu mir selbst sage? Ich weiß ja schon vorher, was „ich” sagen will. Oder doch nicht? Das sind Dinge über die man meditieren kann, wenn man will. Ich mache das manchmal.

Jedenfalls denke ich, dass das befreiende Gefühl, bei Kilometer 4,9 einfach aufzuhören, daher kam, dass es ein Protest war. Ein Protest gegen alles und jeden und gegen niemanden und nichts. Ein Protest gegen die Leistungsvorstellungen in unserer Gesellschaft, ein Protest gegen die Arschloch-Stimme im eigenen Kopf, ein Protest gegen die eigenen zu hohen Ansprüche. Eine Verweigerung. Eine Verweigerung, die sich tatsächlich wie eine freie Entscheidung angefühlt hat, da ich ja locker noch 100 Meter laufen hätte können oder noch einen Kilometer oder noch zwei. Bei zehn Kilometern wird’s bei mir dann langsam kritisch.

Ich habe vor 2 oder 3 Jahren mit dem Laufen begonnen, da ich oft gehört habe, dass das ganz gut gegen Depressionen helfen soll. Ich habe schon viel gemacht, das angeblich gegen Depressionen helfen soll. Mit Saufen habe ich begonnen. Was tatsächlich hilft, bis zum nächsten Morgen. In Wahrheit säuft man sich aber immer nur tiefer ins eigene Loch und weil’s immer tiefer wird, säuft man immer weiter. Auf lange Sicht also nicht sehr antidepressiv. Also hab ich’s dann doch mit Therapie versucht. Funktioniert gut. Vorausgesetzt man hat eine/n gute/n Therapeut/in, Geduld und Mut. Ja, vor allem Mut. Denn man muss dorthin gehen wo es richtig weh tut, also genau in die andere Richtung in die man geht, wenn man Alkohol als Medikament einsetzt oder irgendeine dämliche Serie „binge-watched” oder sich über all die dummen Menschen da draußen aufregt usw. Also war ich jahrelang in Therapie und bin es jetzt wieder. Und das nicht etwa weil es mir im Moment besonders schlecht geht, sondern, weil ich mich besonders geduldig und besonders mutig fühle. Und das fühle ich mich nicht zuletzt weil ich ebenfalls vor ein paar Jahren begonnen habe zu meditieren. Beim meditieren geht man manchmal auch dorthin wo es besonders weh tut aber oft dorthin, wo man besonders große blinde Flecken hat. Dorthin, wo man nicht genau weiß was man sich nicht eingestehen will aber wo man spürt, dass man sich etwas nicht eingesteht. Und manchmal ist meditieren auch einfach fad. Muss man auch mal sagen. Aber im Großen und Ganzen kann ich Psychotherapie in Kombination mit Meditation durchaus empfehlen. Eventuell mit der Therapie beginnen, denn man glaubt nicht, was für einen Scheiß der „innere Kritiker” von sich geben kann, wenn man einfach nur auf seinen Atem achten will. Yoga ist auch lässig.

Der Kern und die Symptome

Aber zurück zum Laufen. Angeblich hilft Laufen also gegen Depressionen. Daher habe ich, wie gesagt, vor ein paar Jahren begonnen laufen zu gehen. Und nachdem ich jetzt schon lange und regelmäßig laufen gehe, kann ich Folgendes sagen: Es hilft, aber nicht wirklich. Man muss bei einer Depression nämlich grundsätzlich zwei Dinge genau unterscheiden. Zum einen den Kern der Depression, der ein ganz tiefes und sicheres Gefühl ist, dass, egal was passiert, nichts wirklich von Bedeutung ist. Von diesem Kern muss man die Auswirkungen eben dieses Kerns unterscheiden. Das sind dann die Symptome die man so kennt. Schauen wir uns die Diagnosepunkte einer „Major Depression” nach dem DSM-V an und bedenken wir dabei mit, dass all diese Symptome vom Kern der Depression, dass nämlich im Grunde alles bedeutungslos ist, ausgehen:

  • Depressive Stimmung fast den ganzen Tag
    (Das ist leider eine Tautologie. Man leidet also an einer „Major depression”, wenn man sich depressiv fühlt. Damit hat man nichts gesagt.)
  • Deutlich vermindertes Interesse oder Freude an allen oder fast allen Aktivitäten für die meiste Zeit des Tages
  • Signifikante (>5%) Gewichtszu-oder abnahme oder verminderter oder gesteigerter Appetit
  • Insomnia (Durchschlafstörungen) oder Hypersomnie
  • Von anderen beobachtete psychomotorische Unruhe oder Retardierung (nicht selbst berichtet)
  • Müdigkeit oder Antriebslosigkeit
  • Gefühle der Wertlosigkeit oder übermäßige oder unangemessene Schuldgefühle
  • Verminderte Fähigkeit zu denken oder sich zu konzentrieren oder Unentschlossenheit
  • Wiederkehrende Gedanken an Tod oder Selbstmord, Selbstmordversuch oder einen bestimmten Plan, um Selbstmord zu begehen

Das ist alles nicht sehr überraschend, wenn wir vom Kern der Depression, wie ich ihn oben versucht habe zu beschreiben, ausgehen. Außer die Sache mit den Schuldgefühlen. Denn die machen die Sache noch komplizierter. Es ist nämlich so, dass man nicht nur glaubt, dass alles im Grunde bedeutungslos ist, man glaubt auch noch, dass man selbst daran schuld ist. Man denkt dann Sätze, die ungefähr so beginnen: „Wenn ich nur…”, „Könnt’ ich nur”, „Ich sollte wirklich mal…”, „Morgen werde ich aber endlich…” usw. Die Welt ist also nicht nur bedeutungslos, man selbst ist auch noch schuld daran und zwar deshalb weil man ja nur wie die Anderen, die Nicht-Depressiven sein müsste, aber selbst dafür ist man zu blöd. Ist man lange und chronisch depressiv werden das die Standardgedanken, die der „innere Kritiker” in unseren Kopf donnert. Und man glaubt es auch. Man glaubt es wirklich. Und aus diesem Glauben heraus machen die oben genannten „Diagnosepunkte” auch Sinn.

Da steht aber nichts davon, dass für den Depressiven im Grunde alles egal ist und er genau daran leidet. Er leidet an der Bedeutungslosigkeit. Er leidet daran, da ihm zwar alles bedeutungslos vorkommt, er aber ganz tief in seinem Inneren weiß, dass das nicht stimmt, dass irgendwo irgendetwas sicher etwas bedeutet. Nur hat er keinen Zugang dazu und weiß nicht wie er sich Zugang dazu verschaffen soll. Er lebt in einer anderen Welt als die Nicht-Depressiven. Und es kommt noch erschwerend hinzu, dass der Depressive zu einem hervorragenden Schauspieler wird. Er sieht ja die anderen, die, die in dieser anderen Welt leben, in dieser nicht-depressiven Welt. Er studiert sie sehr genau und sieht und hört sich dann oft wirklich so an wie die Anderen. Nur ist da eben der Kern. Und der verschwindet auch nicht, wenn man alle Symptome wegbehandelt hat. Das Gefühl kommt wieder, ganz sicher. Daher ist es auch Blödsinn von „depressiven Episoden” zu sprechen. Es wäre besser zu sagen, dass man manchmal an der Bedeutungslosigkeit leidet und manchmal eben nicht und so lange man bei einer neuen „depressiven Episode” das Gefühl hat, dass die Zeit, in der es einem gut ging, nicht „echt” oder eine Ausnahme war, dann ist das das sicherste Zeichen dafür, dass im Grunde nichts überwunden wurde, dass sich nichts wirklich geändert hat, dass man nur vergessen hat, dass alles bedeutungslos, also scheiße ist. Das wird im heutigen Diskurs oft als ein Symptom der Depression verstanden, es ist aber mehr, es ist der Berührungspunkt, der am klarsten zeigt, dass man depressiv ist. Und gegen diesen Kern hilft laufen zu gehen rein gar nichts.

Wo es aber hilft — und das muss unbedingt auch gesagt werden — ist, dass laufen zu gehen zu so etwas wie einer Routine werden kann. Und Routinen, die gut sind, wie etwa körperliche Bewegung, oder zumindest neutral, wie einfach zu schauen, dass sich das dreckige Geschirr nicht allzu sehr stapelt, braucht jemand der oder die depressiv ist unbedingt. Denn ist man depressiv, lebt man also in einer Welt, in der man hauptsächlich das Gefühl hat von der „echten” Welt abgeschnitten zu sein, gibt es eigentlich nichts woran man sich festhalten kann. Und genau dann sind Routinen, die man sich am besten aufbaut, wenn man kurz vergisst, dass man depressiv ist, sehr hilfreich. Man wird keinen Spaß daran haben aber man macht eben was man schon länger einfach so macht und man hat daher wenigstens eine Ahnung, dass es noch eine andere Welt gibt. Und man macht zum Glück nichts Selbstzerstörerisches.

So kann man das laufen gehen benutzen und es hat eben den Vorteil, dass es auch noch, wenn man es nicht übertreibt, gesund ist. Man kann stattdessen aber auch jeden Morgen tanzen oder eine Runde spazieren gehen oder 10 Minuten aus dem Fenster sehen und beobachten was man so denkt (=Meditation). Solche Dinge wären vielleicht sogar besser, denn um wieder auf die 4,9 Kilometer zurückzukommen:

Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen wird uns oft erfolgreich eingeredet, dass wir, an was auch immer, selbst schuld sind. Zu dick? Friss weniger! Zu wenig Geld? Arbeite mehr, lerne was „Ordentliches”, sei kein Träumer! Einsam? Arbeite an deinen soft skills und sei empathischer, hilfsbereiter, netter! Angst? Atme in den Bauch! Überfordert? Entwickle deine Resilienz! Schlecht drauf? Beweg dich mehr, geh doch laufen! Kurz: Diszipliniere dich selbst wenn du glücklich werden willst! Und diese Sätze haben wir mittlerweile „internalisiert”, wie das die SoziologInnen nennen. Das bedeutet ungefähr, dass das was früher äußere Zwänge waren, also körperliche Züchtigungen jedweder Art, um ein bestimmtes Verhalten herbeizuführen, heute in uns leben. Dabei gilt: „Da wir die sozialen Tatsachen internalisiert haben, handeln wir automatisch und sind uns dieses Zwangs nur selten bewusst.” Und daher kam mein befreiendes Gefühl bei Kilometer 4,9 vom Laufband zu steigen. Es machte mir mein ansonsten automatisches Handeln, also die Kilometeranzahl, die ich mir vorgenommen habe, zu absolvieren bewusst und da es mir bewusst wurde, konnte ICH mich dagegen entscheiden. Ich konnte den Kampf gegen mich selbst beenden. Eine vielleicht autonome Entscheidung. Und wie viele autonome Entscheidungen treffen wir heute eigentlich noch? Für mich war das ein Zeichen, dass ich dabei bin, meine Depression tatsächlich zu überwinden, auch wenn das noch etwas dauern wird. Es war nicht nur ein Protest, nicht nur eine Verweigerung, es war eine kleine Rückeroberung, eine Rückeroberung meines wahren selbst.

Und woher kommt das?

Neoliberal gewendet können wir auch sagen: Passe dich an eine Welt an, die für dich keinen Platz außer den des Konsumenten vorgesehen hat! Und um konsumieren zu können, musst du vielleicht auch noch einen Bullshit-Job machen. Und weil diese Marktlogik von Produzent und Konsument mittlerweile all unsere Lebensbereiche bedroht, gehen wir auch gar nicht mehr laufen um einfach etwas gesünder zu sein, sondern um „attraktiv” zu sein, um zu zeigen, dass wir unser Leben im Griff haben. Hauptsächlich tun wir das für potentielle Arbeitgeber aber eventuell auch für einen romantischen Partner. (Aber wie weit ist es mit der „Liebe” eigentlich noch her, wenn wir es uns verdienen müssen geliebt zu werden und wir andere darauf abklappern, ob sie es wert sind von uns geliebt zu werden?) Ist das unsere Motivation heißt das aber, dass wir unser Leben überhaupt nicht mehr im Griff haben, wenn wir regelmäßig laufen gehen. Leider leben wir also in einer Welt in der wir uns jedes mal, wenn wir uns die Laufschuhe anziehen, fragen müssen, warum wir das eigentlich tun und wir müssen ein jedes mal herausfinden, ob wir es aus den richtigen Gründen tun. Das ist schlecht und das gilt nicht nur für’s laufen gehen. Das ist schlecht weil es uns viel abverlangt und unsere Energien bindet. Das ist quasi aktiver Widerstand aber (noch) kein Aufbau von etwas Neuem.

Die Aufforderung zur Selbstdisziplin oder Selbstoptimierung oder einem ähnlich schwachsinnigen Wortgebilde das mit „Selbst” beginnt, funktioniert, weil die „Erfolgreichen” in unserer globalisierten Gesellschaft behaupten, dass sie genau dadurch „erfolgreich” wurden und weil wir ihnen zuhören und das auch noch glauben. Erfolgreich sein bedeutet ja heute hauptsächlich Geld zu haben. Und Geld zu haben bedeutet angeblich glücklich zu sein. Dass das ab einer bestimmten Summe aber nicht stimmt beweist mittlerweile die empirische Sozialforschung. Und auch wenn das aktuell bestritten wird, spüren wir doch ganz genau, dass uns Geld nicht dabei helfen wird, unseren Partner wieder wertzuschätzen oder wenn wir nur aus Pflichtgefühl unsere Verwandten besuchen etc. Hören wir doch auf uns selbst zu belügen. Dass sich die Idee, dass man Glück kaufen kann, trotzdem hält, ist erstaunlich. Ich würde nämlich behaupten, dass die meisten „unserer” erfolgreichen (= „glücklichen”) Menschen heutzutage dies entweder aus Zufall geworden sind und im Nachhinein Gründe suchen warum sie es wurden und eben ein Märchen von Selbstdisziplin erfinden bzw. es sogar selbst glauben, oder weil sie skrupellose Arschlöcher sind, die nicht mal im Ansatz daran denken „sich selbst zu optimieren”, sondern lieber daran arbeiten die Welt, die sie umgibt, so hinzubiegen, dass sie für sie passt. Und wir müssen dann in dieser Welt leben.

Wir müssen dann in einer Welt leben in der „Genies” wie Elon Musk und Jeff Bezos davon träumen den Planeten zu verlassen, den sie durch ihre eigenen Tätigkeiten mitzerstören. Ich würde mich tatsächlich freuen, wenn sich diese Leute demnächst auf den Mars schießen würden. Wir müssen also in einer Welt leben in der „sich selbst zu optimieren” nicht bedeutet seine Überzeugungen zu überprüfen, offener zu werden, anderen Menschen zuzuhören, Fünfe mal gerade sein zu lassen, sondern wo es bedeutet sich so sehr selbst zu geißeln, um erfolgreich zu werden, dass man die Yacht, wenn man sie dann hat, gar nicht mehr genießen kann weil man nicht mehr weiß was überhaupt etwas bedeutet. Und dann werden selbst die Reichen und „Erfolgreichen” depressiv. Sie werden depressiv weil sie nicht mehr erkennen können, ob überhaupt etwas irgendwann mal was bedeutet hat. Sie blicken auf ihre Strapazen, die ich ihnen durchaus abkaufe, zurück und sehen keinen Sinn darin. Sie sehen auch keinen Sinn in dem was sie sich aufgrund dieser Strapazen jetzt alles kaufen können. Sie leben in einer anderen Welt. Genau wie der Depressive. Sie haben aber dann so viel Macht und Angst davor, dass ihnen etwas weggenommen wird, dass sie versuchen können die soziale Welt, also unsere Welt, nach ihren Vorstellungen umzubauen. Sie instrumentalisieren die soziale Welt, um ihre eigenen Symptome zu behandeln und saugen so jedwede Bedeutung aus der sozialen Welt ab. Sie benutzen sie, um mit dem einzigen weiterzumachen das sie kennen, nämlich dem Weitermachen selbst. Sie spüren schon, dass es eigentlich nichts mehr zu tun gibt aber sie können nicht damit aufhören etwas, irgendetwas zu tun. „Nowhere left to go, going’s all we know”.

Weil sie es nicht mehr anders kennen nehmen sie alles was außerhalb ihrer Logik steht und knallen einen Preiszettel drauf. „Schönes Bild! Wie viel kostet es?”. „Diesem wunderschönen Waldstück hier fehlt eine Villa, am besten meine Villa. Und wem gehört der Wald hier überhaupt? Kann man da nicht was machen?” „Mein Doomsday-Bunker ist nicht so extravagant und insgesamt billiger als der meines apokalyptischen Nachbars. Da muss ich was machen”. Lassen wir sie, machen sie so lange weiter bis sie unsere Welt zerstört haben. Und aufhalten können wir sie nur, wenn wir verstehen, dass sie tief verzweifelte Menschen sind, die sich soweit in ihrer Logik verstrickt haben, dass sie sich wundern, wenn ihnen die Verzweiflung in der Villa in dem schönen Waldstück, das sie sich jetzt gekauft haben, von den Wänden entgegenschreit. Sie wissen leider nicht, dass es von Anfang an ihre Verzweiflung war, die sie in diese Villa gebracht hat. Und dann müssen wir Verständnis zeigen, denn sie sitzen im gleichen Boot wie wir, auch wenn sie viel größere Löcher in eben dieses Boot schlagen als wir. Denn auch wir dürfen uns nichts vormachen, auch wir schlagen, aufgrund der gleichen Logik, Löcher ins Boot, auch wenn sie im Vergleich winzig sind.

Und was können wir tun?

Was können wir all dem also entgegensetzen? Erstens würde ich vorschlagen diesen „Genies”, diesen „Erfolgreichen” nicht mehr zuzuhören. Sie als das zu betrachten was sie sind, nämlich die Spitze des Eisbergs der aus Produzierenden und Konsumierenden besteht. Der, sieht man genau hin, nur daraus besteht, besser als Andere sein zu wollen und weil es für die meisten von uns immer jemanden gibt, der oder die „besser” als wir ist, fühlen wir uns einsam und die, die ganz oben am Eisberg stehen, fühlen sich sowieso einsam, da sie uns ja zurückgelassen haben. Wer „gewinnt” hier eigentlich?

Einige Anhaltspunkte können wir dem hervorragenden Buch „Der Welt nicht mehr verbunden: Die wahren Ursachen von Depressionen — und unerwartete Lösungen” von Johann Hari entnehmen. Hari gibt durchaus zu, dass Gene und Neurologisches bei machen Depressiven eine Rolle spielen bzw. die Hauptursache sind aber diese Gründe können den Anstieg an Depressiven nicht erklären. Also identifiziert er unter anderem auch diese Gründe:

  • Abgetrenntsein von bedeutsamer Arbeit
  • Abgetrentsein von anderen Menschen
  • Abgetrenntsein von bedeutsamen Werten
  • Verdrängte Kindheitstraumata
  • Abgetrenntsein von Status und Respekt
  • Abgetrenntsein von der Natur
  • Abgetrenntsein von einer hoffnungsvollen und sicheren Zukunft

Das Interessante an diesen Gründen ist, dass sie nicht nur unsere Depressionen erklären, sondern, dass sie ziemlich vieles erklären, was in unserer Welt gerade schief läuft: Erwerbstätigkeit, die immer weniger Sinn zu scheinen hat und die für viele Menschen nicht mal mehr ausreicht, um aus der Armut zu kommen; Vereinsamung und Skepsis bzw. Angst vor anderen Menschen; allgemeine Orientierungslosigkeit weil man nicht mehr weiß worauf man eigentlich bauen kann, woran man sich eigentlich orientieren sollte; seelische und körperliche Verletzungen, die wir alle, wenn auch in unterschiedlichem Maß, erfahren haben und über die man nicht sprechen darf; nicht mal mehr darauf zu hoffen von anderen respektiert zu werden; die Zerstörung unseres Planten, der unsere Lebensgrundlage bildet und keine Vorstellung von einer Zukunft, die aus etwas anderem als dem ewig Gleichen besteht. Und dann wundern wir uns, dass wir immer depressiver werden? Dann wundern wir uns, dass ein neues Virus ausreicht die Welt auf den Kopf zu stellen? Dann wundern wir uns, dass wir, zu Hause eingesperrt, nicht wissen war wir tun sollen und zu Massenmedien, Alkohol und Drogen greifen, um den Schmerz zu lindern? Ich wundere mich schon lange nicht mehr.

Aber: Zum Glück leben wir (noch) nicht in einer vollständig neoliberalen Welt. Wir leiden an ihr und das ist das sicherste Zeichen dafür, dass sich die neoliberale Lebensweise noch nicht ganz durchgesetzt hat. In einer vollständig neoliberalen Welt wären wir nämlich alle depressiv, dann würden wir nur noch funktionieren und wir würden gar nicht mehr merken, dass wir depressiv sind weil wir es ja alle wären. Wir wären wie die Fische im Wasser, die nicht wissen was Wasser ist. „Glücklich der, der ein Symptom hat”, hat Erich Fromm gesagt. Aber, wie gesagt, soweit sind wir zum Glück noch nicht. Noch lange nicht.

Die neoliberale Welt ist nicht die echte Welt. Ich weiß selbst nicht genau was die echte Welt eigentlich ist oder sein soll aber eine Welt von Individuen, die nur auf sich selbst schauen, ist nicht echt, soviel weiß ich. Eine solche Welt kann nur künstlich sein weil von einem Menschen zu sprechen nur Sinn macht, wenn man ihn in seiner Verbundenheit sieht. Wenn man sieht welchen Einfluss andere Menschen auf ihn haben und welchen Einfluss er auf seine Mitmenschen hat. Dieser Text hier ist z.B. keine individuelle Leistung. Ich bin mir nicht sicher, ob auch nur eine Idee in diesem Text hier „wirklich” von mir stammt. Ich weiß nicht was es bedeuten soll von einer Idee zu sprechen, die ganz ausschließlich von mir kommt. Klar, ich habe mich hingesetzt und den Text geschrieben, das ist tatsächlich meine „Leistung”. Aber ich betrachte mich eher als Kurator als als Erfinder. Ich stelle Dinge, die ich für wahr halte und die ich von anderen Menschen gelernt habe, nebeneinander und hoffe, dass sich daraus Verbindungen ergeben, die andere für wahr halten und ihrerseits nehmen, um neue Verbindungen zu suchen. Das bedeute es für mich ein Mensch zu sein.

Und daraus kann dann Bedeutung erwachsen. Für mich, für andere. Unterschiedlichste Bedeutungen über die wir dann auch gerne streiten können aber wenigstens bedeutet dann irgendetwas wieder etwas. Und wenn einem etwas was bedeutet, dann ist man in diesem Moment, sollte er auch noch so kurz sein, nicht depressiv. Dann leidet man vielleicht noch immer an den Symptomen aber man ist in diesem Moment nicht depressiv. Wir müssen der Bedeutungslosigkeit, in die wir uns immer weiter verfangen und die uns, machen wir weiter, am Ende alle depressiv machen wird, Bedeutung entgegensetzen. Es ist mir egal was für eine solange sie die Verbindung zu den Anderen sucht und dem Trennenden etwas entgegensetzt. Das kann auch bedeuten es einfach auszuhalten wenn jemand „ganz anders” ist. Das ist deren gutes Recht. Die Grenze ist erst erreicht, wenn sie das was uns alle verbindet angreifen.

Wenn wir uns einen auch noch so kleinen Raum zurückholen und er für uns von Bedeutung wird, dann sind wir in der richtigen Richtung unterwegs. Erst da beginnt das echte Leben, alles andere ist daran zu arbeiten, dass ein echtes Leben endlich für uns alle möglich wird. Ich habe keine Anleitung, die hat niemand. Ich habe, und dafür muss ich unter anderem Johann Hari oder Charles Eisenstein danken, mittlerweile aber eine Ahnung davon, was, und das nicht nur für Depressive, ein bedeutsames Angebot sein könnte: Arbeit, die einen Sinn hat; Menschen, die uns annehmen wie wir sind, auch wenn wir selbst nicht wissen wer wir sind und Menschen, die wir versuchen so anzunehmen wie sie sind; Werte wie Zusammenhalt, Respekt und Nachsicht; die ehrliche und schwierige Aufarbeitung vergangener und eventuell anhaltender Traumata; unsere Natur schätzen, denn wenn wir sie schätzen, werden wir sie auch beschützen und somit uns selbst; endlich an einer Zukunft zu arbeiten auf die man gespannt ist und vor der man keine Angst hat.

Ich weiß, das ist alles sehr abstrakt und dieser Text hier ist auch voller Übertreibungen aber das war Absicht. Wir müssen wissen womit wir es zu tun haben und da hilft manchmal nur der Vorschlaghammer oder die Lupe. Die schwierige Aufgabe für uns ist, uns jedes mal, wenn wir uns die Laufschuhe anziehen, wenn wir nach einer Gehaltserhöhung in einem Bullshit-Job fragen, wenn wir andächtig Elon Musk zuhören, wenn wir unseren Nachbarn doch „recht komisch” finden, wenn wir etwas bei Amazon bestellen, wenn wir das Autoplay auf Netflix nicht ausschalten usw. zu fragen warum wir das tun? Tun wir es, um etwas zu verdrängen? Tun wir es um jemandem zu genügen? Tun wir es weil wir glauben es tun zu müssen? Oder tun wir es weil wir das Gefühl haben, dass es das Richtige ist? Und das Richtige steht nie fest. Manchmal sollten wir uns wirklich bewegen weil wir tagelang nur herumgesessen sind und dann gehen wir laufen, manchmal brauchen wir wirklich mehr Geld weil wir z.B. unser Haus sanieren müssen, manchmal ist unser Nachbar tatsächlich „komisch”, manchmal brauchen wir die Ruhe und schauen einen ganzen Nachmittag nur Netflix. Manchmal ist es besser bei Kilometer 4,9 vom Laufband zu steigen. Manchmal. Dann wieder nicht. Uns hier zurecht zu finden, das schaffen wir alleine nicht. Wir brauchen die Anderen und die Anderen brauchen uns. Arbeiten wir gemeinsam an uns.

“Start with what you love and then…
…expand” (Ram Dass)

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