Meta-Produktionsleitung von Bernd Schmidl in einem animierten Kurzfilm, professionell gestaltet.

Six Seven: Erfrischende Unverfügbarkeit

Ein neues Phänomen geht durch die Generation Alpha: „6-7“. Der Ursprung liegt anscheinend in einem Drill-Track des Rappers Skrilla aus Philadelphia. Weil weiße, erwachsene Menschen ja alles wissen, wird behauptet, dass das eine Referenz auf die 67th Street in Chicago ist, oder auf eine Gegend in Philadelphia, oder auf den Polizeicode 10-67, der für den Tod einer Person steht. Skrilla selbst meinte, dass es für ihn anfangs eine negative Bedeutung hatte, sich das durch den Hype aber geändert hat und jede/r seine eigene Interpretation haben kann.

Als ein weiterer Ursprung wird ein kurzes Video eines Basketballspiels genannt, wo ein Junge unter den ZuschauerInnen, nach einem vergebenen Dreier, „6-7“ in die Kamera ruft und dazu eine abwägende Handbewegung macht. Der bekannte NBA-Spieler LaMelo Ball hat das gesehen und aufgenommen und so ist „6-7“ schließlich in den sozialen Medien explodiert.

Was folgt, ist das eigentlich Interessante: Die kollektive Obsession der Außenwelt (von Gen Z aufwärts), dieses Phänomen zu „verstehen“. Es muss ja etwas Konkretes bedeuten. Haufenweise findet man Erklärvideos Erwachsener in den sozialen Medien, die etwas erklären wollen, ohne etwas zu erklären. Es wird erklärt, dass es nur ein harmloser Spaß ist, dass man als Erwachsener keine Angst davor haben muss. Was schon lächerlich genug ist.

South Park hat diese Hysterie bereits zur Kenntlichkeit entstellt. In einer aktuellen Folge („Twisted Christian“) wird das sinnlose Wiederholen des Memes durch die Kinder von den Erwachsenen als satanisches Signal interpretiert. Cartman wird, in einer Parodie auf „Der Exorzist“, scheinbar dämonisch besessen. Als Exorzist tritt der Tech-Guru Peter Thiel auf, der behauptet, dass man den Antichrist aufhalten muss und dass der Schlüssel dazu eben im unverstandenen „6-7“-Meme liegt, man müsse nur herausfinden, was es bedeutet und natürlich kann das nur gelingen, wenn man genügend Daten sammelt. Die Folge macht das Meme zur perfekten Projektionsfläche für irrationale Erwachsenenängste, religiöse Hysterie und technologische Kontrollfantasien.

Diese Erklärversuche – ob dämonisch oder harmlos – verstärken das Phänomen nur. Der Versuch der Erklärung macht „6-7“ noch interessanter. Meine Deutung ist, dass die Erwachsenen an eine quantifizierbare Welt glauben, dass Zahlen etwas Konkretes bedeuten (müssen). Dass hier eine Bewertung drinsteckt und dass Bewertungen sehr wichtig sind. Zu sehr werden wir an die KPIs in unserer Arbeitswelt erinnert, an die unzähligen Tracking-Apps (Schlaf, Kalorien, Kilometer, Bilanzen, Höhenmeter, Minuten usw.), an die Prozentwerte in Meinungsumfragen, usw. Erwachsene sind von Zahlen gefangen genommen worden – die direkte Verbindung zwischen den Arbeitsstunden, dem Kontostand und dem nächsten Urlaub, den Arbeitsjahren und dem phantasierten Ruhestand, der Waage im Badezimmer und der eigenen Attraktivität, usw. Und dann die Kinder so:

Six Seven!!!

Die Erwachsenen, die rausfinden wollen, was es bedeutet und dann enttäuscht sind, wenn es nichts bedeutet, sind wohl das Lustigste am Phänomen. Wieder mal muss ein Phänomen innerhalb der Jugend als Beweis dafür herhalten, dass eben diese Jugend verkümmert ist, dass unsere jugendlichen Insider-Witze besser waren usw. Dass der jugendliche Umgang mit „6-7“ weitaus mehr Spaß zu machen scheint, als unser Umgang mit Zahlen, macht die Erwachsenen wahrscheinlich noch wütender.

Ihre Wut ist verständlich, denn die leere Geste stellt unsere quantifizierte Realität in Frage. Die Kinder parodieren diese Logik. Sie demonstrieren: „Nicht unser Gebrauch dieser Zahlen ist absurd, sondern euer zwanghafter Glaube, dass eure Zahlen – von gezählten Kalorien über KPIs – objektiv etwas bedeuten, ist es.“ Sie halten der Zwanghaftigkeit unserer quantifizierten Welt einen Spiegel vor.

Diese bewusste Unschärfe, untermalt vom physischen Achselzucken, ist eine Form der dadaistischen Verweigerung. Es ist ein zen-artiges „Whatever“. Es ist eine Resistenz – nicht durch aktiven Widerstand, sondern durch das Angebot einer leeren Form, die sich der Verwertung und der Deutung entzieht. Das Erfrischende und Attraktive ist die Unbestimmtheit.

Und vielleicht könnte darin auch für uns Erwachsene ein Reiz liegen. Es macht Spaß zu sehen, wie die Erwachsenenwelt – und auch dieser Text ist ein Teil davon – gar nicht anders kann, als dieses Phänomen unbedingt „einfangen“ und „definieren“ zu müssen. Dass der Bibelvers 6,7 bei Matthäus Folgendes sagt, macht das Ganze noch absurder, also noch lustiger: „Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die meinen, sie werden nur erhört, wenn sie viele Worte machen.“ Wir sagen, dass die Kinder unter „Brainrot“ leiden, aber wir fragen uns nicht, wo sie diesen Brainrot gesehen und gelernt haben und werden wütend, wenn der Spiegel, den sie uns vorhalten, allzu deutlich zeigt, dass wir in einer Welt des „Brainrots“ leben, nur nehmen wir diese Welt leider ernst.

Vielleicht führt uns Gen Alpha gerade vor, wie wir endlos und am Ende bedeutungslos plappern. Der eigentliche Spaß liegt in der Erleichterung, sich die Bedeutungslosigkeit einfach mal, wenn auch nur kurz, einzugestehen. Und darin, zu sehen, wie sich unbekümmerte Kinder über ernste Erwachsene lustig machen. In einer Welt, die alles verfügbar, messbar und optimierbar machen will, ist „Six Seven“ das genaue Gegenteil: Es bleibt, um einen Begriff von Hartmut Rosa zu verwenden, radikal „unverfügbar“. Und genau das ist in unserer zwanghaft eindeutigen Welt das Erfrischende.

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